Meister Eckhart, 1260 - 1327 spricht:
"Die Lehrer loben gar gewaltig die Liebe, wie zum Beispiel Sankt Paulus mit den Worten: »Was ich auch üben mag, habe ich nicht Liebe, so habe ich gar nichts.«
Ich aber lobe die Abgeschiedenheit mehr als alle Liebe. Zum ersten darum, weil das Gute an der Liebe ist, dass sie mich zwingt, Gott zu lieben. Nun ist es viel mehr wert, dass ich Gott zu mir zwinge, als dass ich mich zu Gott zwinge. Und das kommt daher, dass meine ewige Seligkeit daran liegt, dass ich und Gott vereinigt werden; denn Gott kann sich passender mir anpassen und besser mit mir vereinigen, als ich mit ihm.
Dass Abgeschiedenheit Gott zu mir zwingt, das bewähre ich damit: ein jedes Ding ist doch gerne an seiner natürlichen Eigenstätte. Nun ist Gottes natürliche Eigenstätte Einfachheit und Reinheit; die kommen von der Abgeschiedenheit.
Darum muss Gott notwendig sich selbst einem
abgeschiedenen Herzen hingeben. – Zum zweiten lobe ich die
Abgeschiedenheit mehr als die Liebe, weil die Liebe mich dazu zwingt,
alles um Gottes willen auf mich zu nehmen, während die Abgeschiedenheit
mich dazu zwingt, dass ich für nichts empfänglich bin als für Gott.
Nun steht es aber viel höher, für gar nichts als Gott empfänglich zu sein, als um Gottes willen alles zu tragen. Denn in dem Leiden hat der Mensch noch einen Hinblick auf die Kreatur, von der er zu leiden hat. Die Abgeschiedenheit
Nun steht es aber viel höher, für gar nichts als Gott empfänglich zu sein, als um Gottes willen alles zu tragen. Denn in dem Leiden hat der Mensch noch einen Hinblick auf die Kreatur, von der er zu leiden hat. Die Abgeschiedenheit
Dass aber die Abgeschiedenheit
für nichts als für Gott empfänglich ist, das beweise ich: denn was
empfangen werden soll, dass muss irgendworin empfangen werden. Nun ist
aber die Abgeschiedenheit dem Nichts so nahe, dass kein Ding so zierlich
ist, dass es in der Abgeschiedenheit enthalten sein kann als Gott
allein. Der ist so einfach und zierlich, dass er wohl in dem
abgeschiedenen Herzen sich aufhalten kann.
Die Meister loben auch die Demut vor vielen andern
Tugenden. Ich lobe die Abgeschiedenheit vor aller Demut, und zwar
darum. Die Demut kann ohne die Abgeschiedenheit bleiben; dagegen gibt es
keine vollkommene Abgeschiedenheit ohne vollkommene Demut. Denn
vollkommene Demut zielt auf ein Vernichten seiner selbst; nun berührt
sich aber die Abgeschiedenheit so nahe mit dem Nichts, dass zwischen ihr
und dem Nichts kein Ding mehr sein kann. Daher kann es keine
vollkommene Abgeschiedenheit ohne Demut geben, und zwei Tugenden sind
immer besser als eine.
Der andere Grund, warum ich die Abgeschiedenheit
der Demut vorziehe, ist das, dass die vollkommene Demut sich selbst
unter alle Kreaturen beugt, und eben damit begibt sich der Mensch aus
sich selbst zu den Kreaturen. Aber die Abgeschiedenheit bleibt in sich
selbst.
Nun aber kann kein Hinausgehen jemals so hoch stehen wie das Darinbleiben
in sich selbst. Die vollkommene Abgeschiedenheit achtet auf nichts und
neigt sich weder unter noch über eine Kreatur: sie will nicht unten noch
oben sein; sie will so für sich selbst verharren, niemand zu Lieb und
niemand zu Leid, und will weder Gleichheit noch Ungleichheit, noch dies
noch das mit irgend einer Kreatur gemein haben, sie will nichts anderes
als allein sein. Daher werden keinerlei Dinge von ihr belästigt.
Ich ziehe auch die Abgeschiedenheit allem
Mitleid vor, denn das Mitleid ist nichts anderes, als dass der Mensch
aus sich selbst heraus zu den Gebresten seines Mitmenschen geht und
davon sein Herz betrüben lässt. Dessen steht die Abgeschiedenheit ledig
und bleibt in sich selbst und lässt sich durch nichts betrüben. Kurz
gesagt: wenn ich alle Tugenden betrachte, so finde ich keine so ganz
ohne Fehler und so zu Gott führend wie die Abgeschiedenheit."